„Vertrautes gibt Sicherheit”
Warum sich Touristen nicht wirklich für andere Kulturen interessieren
Ein Gespräch mit dem Linzer Kultursoziologen Ingo Mörth (von Dorthee Röhrig)
Emotion:
Beim Reisen entstehen viele neue Eindrücke. Warum haben wir ein besonderes
Gespür für das, was wir kennen?
Mörth:
Wer in fremden Ländern unterwegs ist, geht auf räumliche Distanz zur Heimat, zum
Gewohnten. Vieles erkennt man besser, wenn man nicht mitten drin steckt. Das
gilt auch für Dinge, die uns zu Hause geprägt haben. Sie bekommen in der Ferne
eine größere Bedeutung.
Emotion:
Wächst mit dem Abstand auch die Sehnsucht nach dem Gewohnten?
Mörth:
Ich glaube, ja. Je weiter man von der Heimat weg ist, desto mehr Aufmerksamkeit
schenkt man Situationen oder Bildern, die irgendwie bekannt erscheinen.
In San Francisco habe ich mich riesig über eine Wienerwald Hendl-Station
gefreut. Daheim in Linz käme ich niemals auf die Idee.
Emotion:
Sieht man die eigene Welt mit anderen Augen, wenn man weit weg ist?
Mörth:
Manche Menschen sind auf Reisen offener und sensibler für Erfahrungen. Das Erleben
verändert sich. Das wirkt sich auch auf den Blick zurück in die eigene
Welt aus, er wird intensiver.
Emotion:
Was ist das ‚Fremde‘ im Gegensatz zum Bekannten?
Mörth:
Was fremd ist, erklärt sich nicht aus sich selbst heraus. Es macht nur Sinn in
der Unterscheidung zum Vertrauten. Indem ich das Fremde betrachte und mit dem
Eigenen vergleiche, kann ich entdecken, was mich ausmacht. Ich selbst habe
mich nie so sehr als Europäer gefühlt wie auf Reisen durch die Vereinigten
Staaten. Das Fremde ist ein guter Resonanzboden für Eigenes.
Emotion:
Kann es auch bedrohlich sein?
Mörth
Allerdings. Schon die Sprache bringt das zum Ausdruck. Das Fremde kann das Un-Heimliche
sein, in Abgrenzung zum Heimeligen. Es wird dann abgewertet, bis
hin zu Vernichtungstendenzen. Um nicht durch das Fremde bedroht zu werden,
brauchen wir das Vertraute.
Emotion:
Heißt das also, der Cola-Automat in China oder die Currywurst in Portugal vermittelt Sicherheit?
Mörth:
Sagen wir, sie entspricht unserem Bedürfnis nach Schutz und Vertrautheit. Gewohnte
Speisen, Waren, Dienstleistungen fördern das Gefühl der Geborgenheit
in der Fremde. Man muss die Currywurst übrigens nicht mal essen.
Das Bewusstsein, dass es sie hier in der Fremde gibt, reicht schon, um
ein eventuelles Gefühl von Bedrohung abzuwehren. Dazu kommt: Wer sicheren Boden
unter den Füßen spürt, kann sich neuen Eindrücken oft besser öffnen.
Emotion:
Brauchen wir die Illusion, dass wir überall auf der Welt sicher sind?
Mörth:
Es ist keine Illusion. Die Tourismusbranche muss ja Schutz garantieren. Mit Urlaub
aus dem Katalog realisieren wir diesen Schutz in gewissen Umfang. Jeder
braucht Fixpunkte, die eine Reise in der Ferne definieren und die Rückkehr
ermöglichen, das gilt auch für Globetrotter und Aussteiger. Nur die Rahmenbedingungen
unterscheiden sich.
Emotion:
Wie wirkt sich die Globalisierung auf das Reisen aus?
Mörth:
Das Fremde hat an Exotik eingebüßt. Heute ist es möglich, in der Ferne die Heimat
zu erleben. Vor dem Satelliten-TV im Hotelzimmer guckt man die Bundesliga,
egal wo man ist. In Nepal gibt es Leberkäse im Supermarkt, auf einer
weit entfernten Insel erhält man den neuesten Bestseller via Internet.
Emotion:
Wo findet das Fremde denn überhaupt noch statt?
Mörth:
Ich behaupte: Die meisten Begegnungen mit der einheimischen Kultur, mit den Menschen
werden vom Tourismus gelenkt. Das fängt beim Reiseführer an, der die
Ziele unter bestimmten Gesichtspunkten auswählt. Auch auf einer Kreuzfahrt
oder im Cluburlaub wird das Fremde in homöopathischen Dosen verabreicht.
Viele haben Angst: "Ich bin nicht ortskundig, spreche die Sprache
nicht." Sie bleiben lieber auf vertrautem Terrain, als Tourist unter Touristen.
Emotion:
Was ist mit denen, die durch ein fremdes Land reisen, etwa auf Safari gehen?
Mörth:
Abenteuerreisen entspringen oft einer Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, nach Kontakt
mit Naturvölkern. Sie sind nicht selten mit Kritik an der eigenen Zivilisation
verbunden. Allerdings ist die Wirklichkeit der anderen Kultur für
viele Touristen nicht interessant, sondern das, was sie auf Grund ihrer eigenen
Sehnsüchte in das Fremde hinein projizieren und abrufen. Der Massai-Krieger
inszeniert sich beim Kriegstanz in der Lodge - in Wirklichkeit
ist er vielleicht nur ein armer Straßenkehrer. Seine Realität interessiert
aber keinen.
Emotion:
Gibt es überhaupt noch den ‚Kulturschock‘? Etwas, was uns in der Fremde wirklich
überrascht?
Mörth;
Ja, wenn die oberflächliche Tünche bröckelt. In Israel zum Beispiel trifft der
Tourist auf vertraute, westliche Lebensart. Nur steht diese unter tödlicher
Bedrohung. Das merkt er erst bei einem Anschlag und reagiert geschockt.
Auch in anderen Ländern gibt es Täuschungen. Die Illusion globalisierter
Muster kann jederzeit überall zerbrechen.
Anmerkung: Dies ist die autorisierte Vorversion des Interviews in der Zeitschrift "Emotion" Nr. 10/2006, erschienen als Teil des Features "Alpenglühen im Regenwald", S. 40-47.