Sehnsucht nach dem gefühlsechten Augenblick

VON CHRISTIAN SCHÄDEL

Der Laptop, das Handy, das Smartphone. Auf dem Schoß, am Ohr, in den Händen, im Blick. Unsere neuen Technologien sind Auswüchse und/oder Auslöser einer mobilen Gesellschaft, die auf den (Daten-)Autobahnen dieser Welt schneller und schneller unterwegs ist. Parallel dazu die neue Kommunikation: Chatten, Mailen, SMSen. Kurz. Punktgenau. Allgegenwärtig. Hau in die Tasten!

"Stopp!", ruft der Schweizer Sozialpsychologe Hans-Peter Meier. Es mag schon sein, dass wir in einer neuartigen Mediengesellschaft leben oder besser: verkehren. Doch was bedeutet das? Welchen (emotionalen) Stellenwert besitzen die neuen Kommunikationsweisen in unserem täglichen Leben? Keinen hohen nach Ansicht Meiers, der einen von Werbung, Industrie und Medien aufgesetzten und inszenierten Kult rund um die "mobile Revolution" konstatiert.

Die neuen Medien und ihre technologischen Apparaturen sind nach Ansicht Meiers, der mehrere Studien über die Schweizer Landbevölkerung und europäische Regionen verfasst hat, nichts anderes als Mittel zum Zweck, durchaus vernachlässigbar: "In Landregionen täuscht der Gebrauch neuer schneller Kommunikation darüber hinweg, dass die Zu- und Zusammengehörigkeit zum Ort und zur Region, die traditionelle Gemeinschaft, wichtig bleibt. Man bedient sich des Handys lediglich, um zum Beispiel den Musikanlass im Dorfsaal nicht zu verpassen."

Empirische Studien weisen darauf hin, dass die neuen, schnellen Medien von den Menschen großteils nach wie vor als "Kanaltechnologie" empfunden werden. "Sie werden sicherlich benützt, um schneller und eher erreichbar zu sein. Gleichzeitig werden sie jedoch nicht als ¸Territorien` empfunden, als neue Zeit-Räume mit einer je eigenen, klar definierbaren Qualität", so der Philosoph Meier, der sich auf seiner Homepage über den Wandel der Zeit Gedanken macht (http://www.culturprospectiv.ch). Klar definierbar bleibt einzig das Merkmal der Schnelligkeit, was den neuen Medien aber nicht ihre Kanalhaftigkeit, ihre Nicht-Greifbarkeit nimmt.

Man(n) küsst sich mehr

Erst die physische Präsenz, die gute alte Körperlichkeit, schafft laut Meier den "notwendigen Stillstand und den sinnlichen Kontakt, vereinigt zwei Menschen in einem Territorium". Diese Körperlichkeit ist in den vergangenen Jahren deutlich wichtiger geworden, und das beginnt schon bei der Begrüßung. Man küsst sich mehr, auch Mann küsst sich mehr (zumindest in der Schweiz): "Das klassische Händeschütteln hat selbst bei jungen Männer intimeren Formen Platz gemacht." Bevor Sie nun zu weit unter die Gürtellinie denken: Wir sind bei der Art und Weise, wie sich Menschen heutzutage begrüßen. Anschließend und von Angesicht zu Angesicht ist jene sinnliche, also intensive Kommunikation, eine tatsächliche Auseinandersetzung mit einem leibhaftig vorhandenen Gegenüber möglich, nach der wir uns sehnen und die wir genießen. "Die neue Mediengesellschaft scheint nach ihrem Gegenteil zu rufen - nach der Mund-zu-Mund-Gesellschaft", so Meiers These. Der gefühlsechte, greifbare, kommunikativ zelebrierte Augenblick ist somit - oh Wunder - das Ergebnis unserer allerorts anzutreffenden (herbeigeschriebenen? herbeigeworbenen?) Speed-Gesellschaft.

Zudem haben laut Meier die schnellen neuen Medien die langsamen alten (Buch, Zeitschrift, Tageszeitung etc ...) nicht verdrängt, was übrigens eine alte kommunikationswissenschaftliche Weisheit ist: Kein neues Medium verdrängt ein altes; es gibt lediglich Anpassungen. Vor allem gebildete Menschen und Frauen geben sich diesen antiquierten Formen des Zeitvertreibs hin, wenn sie alleine sind, also quasi niemanden zum kommunikativen Kuscheln haben. Die "User" der traditionellen Medien schaffen sich, weil sie sich Zeit lassen, ein "inneres Territorium".

Morgen lesen Sie: "Digitale Eliten" haben menschliche Bedürfnisse