Neue Medien machen uns zu "Kindern der Zeit"

VON KLAUS BUTTINGER

Wohin steuern uns virtuelle Gemeinschaften, E-Kapitalismus oder gleich E-Gesellschaft? In eine schöne neue Medienwelt? Oder in einen heimatlosen Hinterhof? Antworten versuchte eine Vorlesungsreihe an der Linzer Uni zu geben. Teil 1 einer OÖN-Serie, die heute auf dieser Seite startet.

"Das Gemeinsame der sich abzeichnenden 'Revolution' der neuen Technologien scheint zu sein, dass sie die Ortsbindung der Menschen aufheben und Teilhabe ohne Anwesenheit ermöglichen." Der Soziologe und Philosoph Bernd Guggenberger (siehe Kasten) eröffnete die Vortragsserie mit dem Titel: "Abschied von der Geografie. Die neue Ortslosigkeit und das digitale Nirvana unserer Gesellschaft".

Seiner Meinung nach verändern die neuen Medien (Fernsehen, Internet) "unser Zusammenleben kolossal". Rechenbeispiel: Wenn man sämtliche Erfindungen der Menschheit, vom Steinwerkzeug bis zum Großrechner, als 100 Prozent annimmt, gehen 80 Prozent der Innovationen auf die vergangenen 40 Jahre zurück. Die Zivilisation werde schneller, Lernzwänge nehmen zu, Überforderungsphänome ebenfalls.

Nach wie vor seien Menschen Augentiere. "Uns ist eine Welt erwachsen jenseits des optisch Sichtbaren, wo die Hand die Rolle des Begreifens längst verspielt hat", sagt Guggenberger: "Der Mensch ist ein aus den Distanzen herausgefallenes Wesen, was an der Erdschrumpfung, dem Entfernungsschwund im letzten halben Jahrhundert liegt. Die Gleichzeitigkeit stellt die Dinge nebeneinander, die nichts miteinander zu tun haben. Steinzeitkulturen und Schnellfeuergewehre."

Es komme zum Wechsel vom Raum- zum Zeitgenossen. "Nicht ob einer Pole oder Schweizer ist, schließt ihn aus oder ein, sondern ob er beispielsweise seine prägenden Eindrücke vor oder nach der Perestroika erhalten hat, ob er mit Computer umgehen kann, ob er mit Rap-Musik oder der Chaostheorie etwas anzufangen weiß oder ob er des Englischen mächtig ist", prophezeit Guggenberger. Schon heute gebe es viele, die von TV-Serienhelden länger begleitet werden als von realen Freunden. "Wir leben nicht mehr in einer Region, sondern in einem Programmsegment. Wir verlieren die Räume und Orte unserer Prägung und stürzen in die Schlucht der Zeit."

Der "Zeitgenosse" müsse das Bodenständige aufgeben, Bindungen ablegen, Programme ändern, mobil sein, innere und äußere Ungebundenheit zeigen, immer überall sein, aber nie irgendwo ganz. "Heimat wird zur Worthülse."

"Wir glauben, Raum im Überfluss zu haben. Dabei implodiert die Welt der grenzenlos verschiedenen Orte zur Einwelt mit gleicher Sprache, Mode, Esskultur, Freizeitindustrie, gleichen Geschäften, Schrifttypen und Paradiesen. Mit so vielen Orten, mit so vielen Ortssurrogaten, füllen wir unsere Zeit voll. Seit wir den virtuellen, den errechneten Raum anzapfen, ist die wirkliche Welt zum Wohncontainer mit Blick auf den Hinterhof geworden." In den USA gebe es bereits 15 Millionen E-Wanderarbeiter, die sich mit ihren Wohnmobilen dort niederlassen, wo es schön und billig sei, sofern die elektronische Anbindung stimme.

Soziale Analphabeten

Problem: "Unsere Sozialkompetenz danken wir unserem Vis-avis. Uns gehen soziale Lernakte verloren, wenn der Kühlschrank über Internet einkauft." Guggenberger sieht Gefahren, die von sozialen Analphabeten und kalten Kosmopoliten ausgehen: ein weltweiter Kollektivierungsschub, eine Synchronisation der Gefühle, ein unvorstellbarer Gleichklang. "Das multikulturelle Partybild à la United Colours of Benetton ist leider ein Trugbild."

Ist eine nivellierte Welteinheitskultur im Entstehen? Oder deutet uns unter anderem der 11. September an, dass wir auf ein neues, territorial gefärbtes Auseinanderbrechen der Welt zugehen? "Vielleicht haben wir die Rechnung nicht mit den vielen Wirten dieser Welt gemacht", so Guggenberger.

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Bernd Guggenberger, Zeitgenosse

Prof. Dr. phil. Bernd Guggenberger studierte Politische Wissenschaften, Geschichte, Journalistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin. Er ist Professor für politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin, Essayist und Autor u. a. für "Die Zeit". Einige Buchveröffentlichungen: "Sein oder Design - Im Supermarkt der Lebenswelten", "Das digitale Nirvana", "Einfach schön - Schönheit als soziale Macht", "Wenn uns die Arbeit ausgeht".