Stichwort: Erlebnisgesellschaft
Johanna Ursprunger
Definition:
Erlebnisgesellschaft (Synonym: Spaßgesellschaft) meint eine Gesellschaft, in der der Einzelne sehr
egoistisch auf das Erreichen von möglichst viel Genuss konzentriert ist (individuelle
Erlebnissuche).
Erläuterung:
Die Nachfrage nach Erlebnissen ist Teil eines Marktes (Erlebnismarktes), auf dem die Anbieter
eine unüberschaubare Menge an Erlebnisangeboten
produzieren. Der Bedarf an Erlebnisangeboten entsteht nicht durch Sehnsucht
nach ästhetischen Erfahrungen, sondern aus Angst vor Langeweile. In der
Erlebnisgesellschaft ist nicht mehr das Überleben Ziel jeden Handelns, sondern
das Erleben. Erlebnisoptimierung
kann durch Intensivierung bzw. Verlängerung des Erlebniszustandes erreicht
werden, wobei es allerdings bei Extrem-/Risikosport zu Erlebnisgrenzen kommt. Der Konsum eines Erlebnisangebots reicht
jedoch nicht aus, um ein Erlebnis zu haben. Erlebnisse sind Prozesse und psychophysische Zustände, für deren
Entstehung das Subjekt selbst verantwortlich ist (Wandel von der Außen- zur
Innenorientierung). Typische Begleiterscheinungen dieser Szenerie sind
Unsicherheit und Enttäuschungsangst darüber, ob das konsumierte Erlebnisangebot
überhaupt zum gewünschten Erlebnis führt bzw. wenn das spezielle Erlebnisangebot
nicht das Ziel erreicht. Unsicherheit steigert die Bereitschaft, Vorgaben von
Erlebnisweisen und -möglichkeiten zu übernehmen, was die Basis für erlebnisorientierte Gemeinsamkeiten von Menschen bildet,
die sich u.a. in Konsumerlebnisstätten, künstliche Erlebniswelten (Einkaufszentren
und Erlebnisparks), manifestieren.
Den Begriff „Erlebnisgesellschaft“
hat der deutsche Soziologe Gerhard Schulze geprägt.
Er stützt sich mit seinem Gesellschaftsverständnis auf den
Prozess der Individualisierung, der von dem Soziologen Ulrich Beck seit Ende
der 80er Jahre popularisiert worden ist (vgl. Die Individualisierungsthese).
Ausgehend von der Annahme, dass soziale Differenzierung über
Unterschiede im Erleben und der unterschiedlichen Definition von Ästhetik
funktioniert, hat Gerhard Schulze ein Konzept für die Erlebnisgesellschaft entwickelt:
Sie kann ihm zufolge in drei alltagsästhetische Schemata, die Schulze als Zeichen der eigenen
Orientierung deutet, eingeteilt werden: das Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema:
Für das Hochkulturschema
stehen psychische Erlebnisqualitäten im Vordergrund. Der Genuss wird in der
Kontemplation, der Versunkenheit ins Erlebnis (etwa Erleben von Kunst),
erfahren. Menschen, die diesem Schema zuzuordnen sind, weisen eine
perfektionistische Lebensphilosophie auf. Das Motiv der Gemütlichkeit spielt
beim Trivialschema eine zentrale
Rolle. Das Erlebnis muss einfach sein und eine Sehnsucht nach Sicherheit,
Geborgenheit und Gewohnheit stillen. Beim
Spannungsschema wird Genuss wird in der Action, im Ausagieren von Spannung
erfahren, wofür der Körper eine zentrale Rolle spielt. Es existiert ein starkes
Bedürfnis nach Abwechslung verbunden mit der Angst vor Langeweile und
Gewöhnung.
Diese drei Schemata sind allerdings nicht als Alternativen
zu verstehen, sondern als Kombinationsmöglichkeiten, denn Nähe zum einen Schema
bedeutet nicht zwingend Distanz zu anderen Schemata.
Die Erlebnisgesellschaft gliedert sich aus diesen drei
Erlebnisschemata in fünf soziale Milieus[1], die
die Bevölkerung anhand ihrer stilistischen Präferenzen beschreiben:
Das Niveaumilieu (höhere Bildung und höheres Alter; zentrale Orientierung
ist das Streben nach Rang) orientiert sich nach dem Hochkulturschema; das Integrationsmilieu (mittlere Bildung
und höheres Alter; zentrale Orientierung ist das Streben nach Konformität) nach
dem Hochkultur- als auch dem Trivialschema; das Harmoniemilieu (geringere Bildung und höheres Alter; zentrale
Orientierung ist das Streben nach Geborgenheit) nach dem Trivialschema; das Selbstverwirklichungsmilieu (höhere
Bildung und geringes Alter; zentrale Orientierung ist das Streben nach
Selbstverwirklichung) nach dem Hochkultur- als auch dem Spannungsschema sowie
das Unterhaltungsmilieu (geringere
Bildung und geringes Alter; zentrale Orientierung ist das Streben nach
Stimulation) nach dem Spannungsschema.
Quellen:
Mörth, Ingo (Vorlesungsunterlagen Sommersemester 2006):
Stadtraum - Kulturraum
Freizeitraum: Freizeit- und Kulturverhalten zwischen Zentrum
und Peripherie der Stadt, S. 6-8. In: Architekturforum Oberösterreich (Hg.):
Stadt in Latenz. Urbanität in zweiter Lesung, Wien, 1996, S. 85-94
Voglmayr, Irmgard: Erlebnisgesellschaft - Freizeit – Gender: I. Charakterisierung der
Erlebnisgesellschaft, URL: http://www.univie.ac.at/OEGS-Kongress-2000/On-line-Publikation/Vogelmayr.pdf
Philowiki, die freie Wissensdatenbank:
http://timaios.philo.at/wiki/index.php/Die_Erlebnisgesellschaft
Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Erlebnisgesellschaft
http://www.single-generation.de/wissenschaft/gerhard_schulze.htm#erlebnis2005
Weiterführende Literatur:
Luger, Kurt (1995): Sehnsucht Abenteuer (S. 15-25) / Aufbruch in die
Erlebnisgesellschaft (S. 34-38). In: Luger,
Kurt: Sehnsucht Abenteuer: Entgrenzungsversuche
und Fluchtpunkte der Erlebnisgesellschaft ; Picus-Verlag, Wien,
1995
Grillitsch, Martina (2005): Erlebnis (S.9) / Erlebniswelten
(S.10-12) / Erlebnisgesellschaft
(S.12-13). In: Grillitsch,
Martina: Die Entwicklung von Freizeit- und Themenparks als touristische
Erlebniswelten unter besonderer Berücksichtigung der Disney Themenparks
(Diplomarbeit), 2005
Dörner,
Andreas (2001): Die mediale Erlebnisgesellschaft (S.37-56). In: Dörner,
Andreas: Politainment: Politik
in der medialen Erlebnisgesellschaft, 1. Auflage, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am
Main, 2001
Schulze,
Gerhard (1993): 1. Kapitel: Ästhetisierung des Alltagslebens: 1.1.
Erlebnisgesellschaft (S.52-54) / 1.3. Erlebe dein Leben
(S.58-60) und 9. Kapitel: 9.2. Erlebnismarkt, -angebot und -nachfrage / 9.3.
Handlungsroutinen auf dem Erlebnismarkt / 9.5. Erlebnis als Handlungsziel /
9.6. Rationalität der Erlebnisnachfrage / 9.8. Rationalität des
Erlebnisangebots / 9.9. Dynamik des Erlebnismarktes (S. 417-457) und Glossar zu
Definitionen von Erlebnis, Erlebnisgesellschaft, - angebot,
-markt, - nachfrage, - orientierung, - rationalität (S. 735 ff.). In: Schulze, Gerhard: Die
Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Campus-Verlag, Frankfurt
am Main/New York, 1993
Weiterführende Links:
Sophie Karmasin
(Karmasin.Motivforschung): Gesellschaftliche Trends
und
Konsumverhalten,
URL: http://www.karmasin.at/kmo/files/EM%20Folien.pdf
Peter
Zellmann / Beatrix Haslinger (Institut für Freizeit-
und Tourismusforschung:
Ein Institut der Ludwig Boltzmann
Gesellschaft): Freizeitmonitor 2003, URL:
http://www.freizeitforschung.at/data/Archiv/2004/01_2004/body_01_2004.html
http://www.seminar-albstadt.de/semiproj/1996/erlebpad.htm
http://www.bpb.de/publikationen/L0749F,0,0,Was_wird_aus_der_Erlebnisgesellschaft.html
[1] Milieus ergeben sich durch
kollektive soziale Typisierung, nach der andere Personen sozial wahrgenommen,
eingeordnet und für Interaktion ausgewählt werden.